Durch die Veränderungen, die nicht zuletzt mit digitaler Aufnahme- und Distributions-Technik Einzug in die audiovisuelle Gestaltung erhalten haben, scheint in den letzten Jahren der Bildschärfe und somit auch ihrer Antithese, der bildlichen Unschärfe, eine besondere Stellung zuzukommen. Das Wechselverhältnis aus High Definition und ästhetischer Unschärfe bildet einen Ausgangspunkt für meine Überlegungen, die dem Verhältnis von Technik, und Ästhetik ebenso nachgehen, wie der normativen Konzeption von Wahrnehmung, die sich – so meine grundlegende These – in besonders exponierter Weise an bewegten Bildern der Un|Schärfe herausarbeiten lassen:
Bewegtbilder[1] der Un|Schärfe sind Bilder, in denen Aspekte des Medialen in den Vordergrund treten und die sich daher für eine Beschäftigung mit medientheoretischen Fragen der Wahrnehmung und Sichtbarmachung anbieten. Ein Forschungsprojekt zur Un|Schärfe bewegter Bilder bedarf dazu eines diskursiven Zugangs, bei dem zwar die Medien Film und Fernsehen in ihrer historischen Verfasstheit im Fokus stehen, das sich jedoch nicht als Einzelmedienanalyse bewerkstelligen lässt, sondern anstelle einer Medienbestimmung eine Beschäftigung mit bestimmten audiovisuellen Aspekten des Medialen unabdingbar macht.
Un|Schärfe fungiert als eine Denkfigur audiovisueller Bildproduktion, in der sich metaphorische Felder mit epistemologischen oder auch anthropologischen Zugängen überlagern. In Bildern der Schärfe und Unschärfe werden das Wechselverhältnis von Fakt und Fiktion, von Subjektivität und Objektivität, von Traum und Realität, von Zeit und Raum verhandelt. Demnach ließe sich eine Arbeit zur Un|Schärfe bewegter Bilder sowohl historisch als auch theoretisch in einem breiteren kulturtechnischen Rahmen erarbeiten.
Dies lädt somit zum Nachdenken über die allen Bildern (vermeintlich) zugrundeliegende Schärfe und Klarheit ein und antizipiert in der Unschärfe und Vagheit das, was nicht vollständig ist, aber sein kann. Sensomotorische Aspekte der Rezeption sowie wahrnehmungstheoretische Konzeptionen bilden davon ausgehend die dritte Ebene. Hier soll auf das Verhältnis von Mensch und Technik bei der Wahrnehmung un|scharfer Bilder eingegangen werden. Diesem mehrfachen Zugang zur Schärfe liegt ein großer Möglichkeitsraum in Bezug auf Wahrnehmung und Interpretation zugrunde. Insbesondere in Bildern der Unschärfe, Vagheit oder Verschwommenheit lassen sich visuelle Unbestimmtheitsstellen aufzeigen, die in sich immer auch Potentiale von Klarheit und Schärfe beinhalten, welche einerseits durch eine apparative Nachjustierung oder andererseits durch eine ästhetische Auflösung eingelöst werden können. Solche Wahrnehmungsutopien der Schärfung mystifizieren dabei technische Aspekte medialer Anordnungen in Richtung intellektueller Reflexion. Der Akt der Schärfung kann somit als eine Geste der Sichtbarmachung oder der Unsichtbarmachung verstanden werden und dient dabei nicht nur dem Ent-, sondern auch dem Verwerfen.
Angefangen vom Scharfstellen durch den Vorführer zu Beginn einer Filmprojektion, über die verwackelten Handyaufnahmen aus Kriegs- und Gefechtssituationen des Arabischen Frühlings, deren Authentifizierung zur Problemstellung zeitgenössischer Fernsehnachrichten werden, bis hin zur Fokussierung der Zuschauer durch ihre eigene Blicklenkung[2] lassen sich vielfältige Momente der Blick- und Bildschärfung denken, die besondere Aufmerksamkeit verdienen, da in ihnen das verstärkt aufzublitzen scheint, was Kittler als ,strategische Überrollung der menschlichen Sinne’[3] bezeichnet. Der Akt des Sehens und Hörens etabliert die Zeugenschaft der Zuschauer. Un|Scharfe Bewegtbilder verhandeln nicht zuletzt über Fragen der Zeugenschaft und der Subjektpositionierung das Verhältnis von gegenständlichen und mentalen Bildern, die in ihrem Wechselverhältnis auf Idealvorstellungen des Scharfsinns verweisen.
Eine Theorie audiovisueller Un|Schärfe muss sich unweigerlich mit den aufnehmenden Techniken, den wiedergebenden Apparaturen und den wahrnehmenden Subjekten beschäftigen und nach Erkenntnismodi fragen. Es ist daher nötig, Fragen nach dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, nach Wahrnehmung und Imagination und nach Technik und Ästhetik zu stellen. Un|Scharfe Bilder stellen durch ihre Unbestimmtheit Mehrdeutigkeit und Potentialität dar oder auch her. Die Möglichkeit zur Abbildung von Denkfiguren und Wahrnehmungsbildern über Un|Schärfe setzt ein spekulatives Mitdenken der Rezipient*innen voraus, da die Unschärfe auf die Möglichkeit des Scharfstellens oder eine Schärfeverlagerung verweist und somit immer bereits einen möglichen Wandel der Bilder und damit eine andere Bewegung in der Zeit suggeriert. Die Widerständigkeit der Un|Schärfe ist dabei an verschiedenen audiovisuellen Artefakten und Apparaturen zu thematisieren, um gleichermaßen ihre Disfunktion als auch ihre Produktivität herausarbeiten zu können.
[1] Der Begriff „Bewegtbild“ wird in der Arbeit als Überbegriff für televisuelle, filmische oder interaktive Bilder gesetzt und ist als solcher theoretisch zu fundieren.
[2] Dem ähnlich sind auf anderer Ebene auch die Handykameras auf Konzerten, die plötzlich der Wahrnehmung als Aufzeichungsapparat zwischengeschaltet werden.
[3] Kittler 2002, S. 31.